Zum Vorlesen: Omas Schutzengel

© Von Regina Meier (Verl, D)

„Singt sie nicht wie ein Engel, unsere kleine Angelina?“, fragt Oma, die heute zu Besuch da ist.
„Ja“, sagt Mama, „sie singt wirklich sehr schön! Darum habe ich sie im Kinderchor angemeldet. Schon nächsten Monat geht es los!“
„Hast du gut gemacht!“, lobt Oma und lächelt versonnen. „Weisst du, ich war auch im Chor damals!“
Klar, das hat Oma schon oft erzählt und was jetzt kommt, weiss Mama auch.
„Wir haben einmal ein grosses Konzert gegeben und da habe ich …“
„Das Solo gesungen, ich weiss, Mutter!“, fällt Mama ihr ins Wort.

Sie räuspert sich und dann singt Oma: „Gott ist mein Hi-hirt, mir wird nichts ma-ha-hangeln!“
„Oma, was ist ein Hi-hirt?“, fragte Angelina. Sie grinst, denn auch sie kennt die Geschichte vom Chor und vom Solo und vom Hi-hirt.
„Aber Kind, habt ihr denn keinen Religionsunterricht in der Schule?“, fragt Oma. „Ein Hirt, das ist zum Beispiel ein Schäfer, der auf seine Schafe aufpasst.“
„Ach so, dann passt Gott also auf uns auf?“
„Das hast du gut erkannt, Angelina“, meint Oma stolz. „Du musst das ja auch wissen, denn du bist sozusagen eine Gehilfin!“
„Hä?“ Angelina versteht nicht, was Oma meint.
„Das heisst: Wie bitte?“, merkt Oma an. Doch dann erzählt sie etwas, das nun wirklich neu ist für die Kleine. „Angelina, das heisst Engelchen!“
„Stimmt ja, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Dabei haben wir in der Schule gelernt, dass Engel auf Englisch „Angel“ heißen. Klasse, ich bin ein Engelchen!“, jubelt Angelina und hüpft fröhlich durchs Zimmer. Dann bleibt sie stehen und fragt: „Aber warum bin ich eine Gehilfin?“
„Die Engel passen ebenfalls auf uns auf, deshalb sagt man ja auch Schutzengel. Jeder von uns hat einen Schutzengel!“
„Ich auch, Oma? Ich habe auch einen Schutzengel, obwohl ich doch selbst ein Engelchen bin?“
„Klar, du besonders!“

Nun macht Angelina grosse Augen, das versteht sie nicht. Wenn alle einen Schutzengel haben, dann ist es ja gut. „Was ist denn so besonders an mir, Oma?“, fragt sie deshalb.
Oma lächelt und zieht Angelina auf ihren Schoss.
„Weil du mein Schutzengel bist! Kannst du dich an den Tag erinnern, als ich den Kuchen im Ofen vergessen hatte und die ganze Küche unter Qualm stand?“
Angelina nickt. Natürlich, das war ein riesiger Schrecken!
„Ja, klar! Sowas vergisst man nie! Ich kam aus der Schule. Eigentlich hätte ich sofort nach Hause gehen sollen. Aber ich wollte dich besuchen und da qualmte es schon aus deinem Küchenfenster. Ich habe dann beim Hausmeister geklingelt und der hat deine Wohnungstür geöffnet. Ich vergesse nie, wie du selig auf dem Sofa geschlafen hast und von alledem nichts mitbekommen hast, oh je!“
Oma nickt und ihr Gesicht ist plötzlich ganz ernst.
„Das hätte böse ausgehen können!“, sagt sie und drückt Angelina einen Kuss auf die Wange. „Zum Glück warst du mein Schutzengel! So sind wir alle mit dem Schrecken davongekommen!“
„Ja, nur der Kuchen war hinüber!“ Angelina grinst. „Aber daran sollte es nicht ma-ha-hangeln, nicht wahr? Du hattest ja Guetzli im Haus!“
„Hey, du kleiner Frechdachs-Engel, du willst mich wohl veräppeln?“
„Aber Oma, ich doch nicht! Ich habe nur das lustige Wort aus deinem Lied genommen, das habe ich nämlich verstanden und den Hi-hirten, den kenne ich auch. Er ist ja mein Chef!“